Nachteilsausgleich bei Teilleistungsstörungen in Sachsen – eine faire Sache?
Von Nachteilsausgleich haben viele schon etwas gehört, aber was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff und wer hat Anspruch darauf?
Zunächst einmal hat die Schule ja den Auftrag, alle Kinder entsprechend ihrer persönlichen Voraussetzungen zu fördern. Stellt sich aber heraus, dass aufgrund einer Behinderung, einer Teilleistungsstörung oder chronischen Erkrankung die Förderung nicht ausreicht, um begabungsentsprechende Leistungen erbringen zu können, dann kommt der Nachteilsausgleich ins Spiel.
Das Ziel des Nachteilsausgleich ist im Wesentlichen, vorhandene Beeinträchtigungen auszugleichen und damit Chancengleichheit herzustellen. Es geht also um Unterstützungsmaßnahmen, die den Nachteil, z.B. durch eine LRS, ausgleichen sollen, den ein betroffenes Kind im Erbringen seiner schulischen Leistungen hat. Das können methodisch-didaktische Hilfestellungen sein, technische Hilfsmittel oder auch schulorganisatorische Maßnahmen.
Ist Nachteilsausgleich wirklich fair? Dazu gibt es eine treffende Karikatur von Hans Traxler, die das Thema Chancengleichheit auf den Punkt bringt: https://www.grundschulpaedagogik.uni-bremen.de/archiv/traxler+karikatur+gleichheit+freiheit.pdf
In Deutschland ist Bildungspolitik Ländersache, daher gelten auch zum Nachteilsausgleich je nach Bundesland andere Regelungen. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Regelungen im Freistaat Sachsen. Möchtest du erfahren, wie der Nachteilsausgleich in anderen Bundesländern geregelt ist, dann schau mal hier vorbei:
Niedersachsen: Blogbeitrag von Sabine Landua https://sabine-landua.de/nachteilsausgleich/
Baden-Württemberg: Blogbeitrag von Susanne Seyfried https://www.lerntherapie-vs.de/nachteilsausgleich/mythen-nachteilsausgleich/
Hessen: Gast-Blogbeitrag von Pia Meyer https://www.lerntherapie-vs.de/nachteilsausgleich/nachteilsausgleich-hessen/
Übersicht aller Bundesländer: https://www.legakids.net/eltern-lehrer/lrs-legasthenie/lrs-erlasse-der-bundeslaender
Ein Nachteilsausgleich zielt darauf ab, SchülerInnen die Möglichkeit zu geben, ihre Fähigkeiten und Kenntnisse zu zeigen, indem ihre besonderen Bedürfnisse berücksichtigt werden. Die inhaltlichen Anforderungen sowie die Leistungsbewertung bleiben jedoch bestehen.
Wie kann so ein Nachteilsausgleich konkret aussehen?
Da gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Möglichkeiten. Nachteilsausgleich sollte immer individuell an die Bedürfnisse und Voraussetzungen des Kindes angepasst sein und muss sich an seiner Wirksamkeit messen lassen.
Hier einige Beispiele:
Aus dem Bereich der didaktisch-methodischen Hilfen:
- Das Verwenden von Strategiekärtchen, Regelheften o.ä., die zuvor mit der Lehrkraft erarbeitet wurden
- Differenzierte oder weniger Hausaufgaben
- Zusätzliche Lern- und Anschauungsmaterialien zur Verfügung stellen
- Aufgaben in anderen Formaten, z.B. größere Schrift, angepasste Schriftart, größerer Zeilenabstand…
- Vorlesen der Aufgabenstellung
- Möglichkeit, Nebenrechnungen, Skizzen und Zwischenergebnisse aufzuschreiben
- Mehr Bearbeitungszeit
- Schwierigkeitsgrade der Aufgabenstellungen kennzeichnen
- Strukturierungshilfen
Aus dem Bereich Einsatz technischer Hilfsmittel:
- Um sich Texte vorlesen zu lassen: Lesestift
- Als Schreibhilfe: PC oder Laptop
- Verschiedene Lesehilfen, z.B. Leseschablone oder Lesepfeil
- Anschauungsmaterialien, z.B. das Dienesmaterial
- Wörterbuch
- Diktiergerät
Unterrichtsorganisatorische Unterstützung:
- Individuell angepasste Pausenregelung
- Arbeitsplatz individuell anpassen
Beim Notenschutz hingegen geht es darum, die Bewertung einer Leistung zu ändern oder anzupassen, um den besonderen Bedürfnissen der SchülerInnen gerecht zu werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sie nicht aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse, die aus ihrer Teilleistungsstörung, Behinderung oder chronischen Erkrankung heraus resultieren, schlechtere Noten erhalten, sondern ihre tatsächlichen Fähigkeiten und Kenntnisse fairer bewertet werden.
Beispiele für Notenschutz:
- Aussetzen der Bewertung, z.B. der Rechtschreibung bei LRS
- Veränderung der Bewertungsmaßstäbe
- Alternative Leistungsbewertung ermöglichen, z.B. mündlich statt schriftlich
Beide Maßnahmen, Nachteilsausgleich und Notenschutz, sind wichtig, um Chancengleichheit herzustellen und dafür zu sorgen, dass alle SchülerInnen entsprechend ihrer Fähigkeiten gefördert werden. Wichtig zu wissen: Die meisten Maßnahmen, die ich als Nachteilsausgleich beschrieben habe, sind ohne weiteres in Absprache mit der Lehrkraft umsetzbar. Dazu bedarf es in der Regel keines Antrags, sondern die Lehrkräfte können in der Regel aus pädagogischem Ermessen heraus Maßnahmen umsetzen. Ein Antrag und die Entscheidung der Klassenkonferenz sind dann notwendig, wenn es um die Veränderung der Leistungsbewertung geht, also den Notenschutz. Hier besteht seitens der Schulen oft ein Informationsdefizit. Maßnahmen, die aus pädagogischem Ermessen umgesetzt werden könnten, werden verweigert aus Sorge, dafür keine rechtliche Grundlage zu haben.
Nun also zu den rechtlichen Regelungen: Was gilt in Sachsen?
In Sachsen ist der Nachteilsausgleich durch das sächsische Schulgesetz geregelt. Ich beziehe mich dabei auf die aktuell gültige Fassung vom 1. Januar 2024.
Im §35a des sächsischen Schulgesetzes wird der Nachteilsausgleich zwar nicht explizit genannt, es ist aber vermerkt, dass
- die individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der einzelnen SchülerInnen im Unterricht und in anderen schulischen Veranstaltungen berücksichtigt werden müssen. Der Unterricht muss dementsprechend angepasst werden. Das gilt für jeden Schüler, auch ohne Teilleistungsstörung (§ 35a, Absatz 1).
Beispiel: weiterführende Aufgaben bei Kindern, die bereits als gute Lesende eingeschult wurden und für die das Zusammenschleifen von Silben eine Unterforderung darstellen würde.
Ein weiteres Beispiel: Lernvoraussetzungen können auch die Konzentrationsleistung betreffen. Hier helfen Maßnahmen wie z.B. bewegtes Lernen oder abschirmende Maßnahmen wie Kopfhörer.
- dies für SchülerInnen mit einer Teilleistungsschwäche in besonderem Maße gilt (§ 35a Absatz 2).
Ebenfalls weist der §35a in Absatz 2 darauf hin, dass zwischen SchülerIn, Eltern und Schule eine sogenannte Bildungsvereinbarung geschlossen werden kann. Diese hat zum Inhalt, welche Fördermaßnahmen also im Detail umgesetzt werden.
Hier der Link zum §35a des Sächsischen Schulgesetzes: https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/4192-Saechsisches-Schulgesetz#p35a
Neben dem sächsischen Schulgesetz gilt in Sachsen noch die Verwaltungsvorschrift LRS-Förderung. Die aktuell gültige Fassung ist vom 6. Juni 2008.
Eine Verwaltungsvorschrift, kurz VwV, ist eine Weisung oberster Behörden an ihnen hierarchisch nachgeordneten Verwaltungen und ist für diese auch bindend. Sie dient dazu, unbestimmte Rechtsbegriffe auszulegen oder zu konkretisieren.
In der VwV LRS-Förderung ist die individuelle Förderung von SchülerInnen mit Teilleistungsschwäche aus §35 a des sächsischen Schulgesetzes genauer ausgeführt.
Zunächst einmal gilt in Sachsen: Es gibt nur eine Verwaltungsvorschrift LRS, nicht aber eine Verwaltungsvorschrift Dyskalkulie. Dyskalkulie ist in Sachsen nicht als Teilleistungsschwäche anerkannt! Dies hat zur Folge, dass Betroffene von Rechenschwäche keinen Anspruch auf Maßnahmen zum Nachteilsausgleich haben. Dennoch gilt auch hier §35a Absatz 1 des sächsischen Schulgesetzes. Lehrkräfte können also nach ihrem pädagogischen Ermessen Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung gewähren.
Was gilt an Grundschulen?
Unter 4.1.3 der VwV LRS-Förderung geht es um die Förderung von SchülerInnen der Grundschulen mit LRS:
- Die Förderung soll auf einer fortlaufenden Analyse des Entwicklungsstands des Kindes beruhen.
- Aus dieser soll ein konkreter Entwicklungsplan erstellt werden, der Ziele, Maßnahmen und Zeitpunkte für eine Zwischenauswertung enthalten soll. Hier finden auch außerschulische Maßnahmen Platz, wenn sie notwendig erscheinen. Welche genau, wird nicht gesagt, aber Lerntherapie wäre sicher eine dieser außerschulischen Maßnahmen.
- Dieser Entwicklungsplan soll für alle Lehrer als Arbeitsinstrument dienen, die den Schüler unterrichten, also auch in anderen Fächern als Deutsch. Bei der Erstellung des Entwicklungsplans sind die Eltern nicht mit im Boot. Diese sollen nur darüber informiert werden.
Wie gehandelt werden soll, wenn sich trotz intensiver schulischer Förderung kein Lernfortschritt einstellt, wird unter 4.1.5 VwV LRS-Förderung beschrieben:
- Methoden und Förderkonzept der schulischen Förderung sollen überprüft werden.
- Wird festgestellt, dass die schulische Förderung nicht ausreicht, sollen Eltern darüber informiert werden, welche außerschulische Unterstützungs- und Therapiemöglichkeiten es gibt.
Als einzige konkrete Form des Nachteilsausgleich für GrundschülerInnen wird in der VwV LRS-Förderung auf die Möglichkeit des Notenschutzes hingewiesen (4.1.4). Dieser muss vonseiten der Eltern bei der Schule beantragt werden und wird nur in Teilbereichen der Fächer Deutsch und des fremdsprachlichen Unterrichts gewährt.
Die Entscheidung darüber, ob Notenschutz gewährt wird, trifft die Klassenkonferenz. Wird dem Antrag stattgegeben, dann wird der Notenschutz auf dem Zeugnis und der Halbjahresinformation vermerkt.
Was gilt an weiterführenden Schulen?
Für die Mittelschule gilt ähnliches:
- SchülerInnen mit diagnostizierter LRS sollen innerhalb des regulären Unterrichts angemessen und individuell gefördert werden (4.3.2 VwV).
- Zusätzliche schulische Fördermaßnahmen können angeboten werden, wenn Bedarf besteht, auch parallel zum Regelunterricht, insbesondere zum Deutsch- und Fremdsprachenunterricht. Das heißt, dass das betreffende Kind z.B. statt einer Deutschstunde eine Förderstunde besucht.
Für Mittelschulen werden folgende Formen des Nachteilsausgleichs genannt
- Angemessene Arbeitszeitverlängerung (VwV 4.3.3)
- Zusätzliche Hilfsmittel (VwV 4.3.3)
- Beispiel: Einem Schüler wird 25 % mehr Zeit zum Bearbeiten seiner Leistungskontrolle gewährt. Diese zusätzliche Zeit erlaubt es dem Schüler, mit einer (mit der Lehrkraft abgesprochenen) Korrekturkarte Fehler aufzuspüren und zu berichtigen.
- Befristete Aussetzung der Benotung in den Fächern Deutsch und/oder Fremdsprache. Voraussetzung dafür ist, dass die Rechtschreibleistung über einen nicht absehbaren Zeitraum „mangelhaft“ (Note 5) oder „ungenügend“ (Note 6) bleibt und parallel zur Notenaussetzung spezielle Fördermaßnahmen stattfinden. Der Notenschutz soll außerdem zeitlich befristet sein und auf dem Zeugnis und der Halbjahresinformation vermerkt werden. (VwV 4.3.4)
- Hinsichtlich der Abschlussprüfungen wird durch den Prüfungsausschuss darüber entschieden, welche Maßnahmen und Hilfsmittel während der Prüfung angewendet werden dürfen. (VwV 4.3.3)
Unter 4.3.5 wird eingeschränkt, dass diese Maßnahmen insbesondere für SchülerInnen der Klassen 5 und 6 gelten. In höheren Klassenstufen können Fördermaßnahmen in begründeten Fällen angeboten werden.
Für SchülerInnen mit LRS auf dem Gymnasium gelten die gleichen Bestimmungen wie für die Mittelschule. Hinsichtlich des Abiturs am Gymnasium wird auf die Regelungen der Abiturprüfungen in Sachsen hingewiesen.
Hier der Link zur Verwaltungsvorschrift LRS-Förderung: https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/5441-VwV-LRS-Foerderung#vwv4
Die Abiturprüfung ist in der Schulordnung Gymnasium Abiturprüfung geregelt (SächsBVGI, Fassung vom 1. August 2023):
Hier der Link zur Schulordnung Gymnasium Abiturprüfung (SächsBVGI): https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/20003-Schulordnung-Gymnasien-Abiturpruefung#p58
Wie gerecht ist also die sächsische Regelung zum Nachteilsausgleich, um auf meine Eingangsfrage zurückzukommen? Die Frage stellt sich und richtet sich auch an die Politik, aufgrund der Tatsache, dass sowohl LRS als auch Dyskalkulie durch die WHO als Entwicklungsstörung anerkannt sind und im Diagnoseklassifikationssystem ICD-10 eingetragen sind, in Sachsen jedoch nach wie vor Dyskalkuliebetroffene benachteiligt werden. Hier bedarf es aus meiner Sicht einer grundlegenden Neubewertung.